Eldorado-Reden Georg von Vollmars (Auszüge)
Rede gehalten in der öffentlichen Parteiversammlung vom 1. Juni 1891 im »Eldorado« zu München
Seit langem werden, sowohl innerhalb als außerhalb unserer Partei die beiden Fragen erörtert: Ob in der Politik der Reichsregierung seit dem Aufhören der Bismarckschen Herrschaft eine erhebliche Veränderung, ein »neuer Kurs« eingetreten sei, und ob die Sozialdemokratie unter der jetzigen Regierung Veranlassung zu irgendwelcher Änderung in ihrem bis dahin beobachteten politischen Verhalten habe.
Beide Fragen werden auf die widersprechenendstete Weise beantwortet. Die Lobredner des jetzigen Zustandes wissen nicht genug Verbesserungen und Wohltaten aufzuzählen, welche seit dem Regierungswechsel dem deutschen Volke und namentlich den Arbeitern zuteil geworden seien. Innerhalb unserer Partei dagegen ist wohl zu Zeiten und von einigen Seiten gleichfalls eine gewisse, verhältnismäßige Besserung anerkannt worden, jedoch bei anderen Gelegenheiten und von anderen Seiten jede Spur eines veränderten Kurses verneint worden. Ebenso widersprechend sind die Meinungen über die Haltung unserer Partei seit dem Sturze Bismarcks und dem Falle des Ausnahmezustandes. Von Gegnern wird höhnisch behauptet: wir seien nicht mehr die Alten, wir hätten den festen Grund verloren, seien in Zwietracht, es gehe abwärts mit uns. In unserem eigenen Lager dagegen finden sich Übereifrige, welche die Sozialdemokratie für etwas absolut Unveränderliches erklären.
Was nun die Frage trifft, ob wir einen neuen Kurs haben oder nicht, so bin ich der Ansicht: daß trotz alles Schwankens und Zauderns und trotz einer großen Menge von Fehlern und Mängeln aller Art tatsächlich eine nicht unwesentliche Änderung in der Regierungspolitik eingetreten ist.
Das hauptsächlichste Merkmal der Bismarckschen Herrschaft war die völlige Erstarrung, die eiserne Unbeweglichkeit unserer öffentlichen Verhältnisse. Die Reichspolitik blieb auch dem geringsten modernen Gedanken grundsätzlich und hartnäckig verschlossen, namentlich auch auf dem Gebiete der Arbeiterbewegung. Die Verhältnisse wurden eigensinnig, ja mit Absicht auf die äußerste Spitze getrieben; erklärte doch Bismarck nach seinem Fall offenherzig, daß er gewünscht habe, den Kampf mit der Sozialdemokratie baldmöglich »militärisch zu lösen«, solange diese noch nicht die Übermacht habe. Diese gefahrdrohende Lage besteht heute nicht mehr. Das Unbewegliche ist in Bewegung gekommen, die anfänglich naturgemäß eine langsame und öfter stockende ist, aber in ihrem Fortgange immer lebendiger werden muß und kein Anhalten kennt. Die frühere Erstarrung ist gewichen, daß alte Eis ist aufgetaut, eine Menge von Kräften, die bis dahin gefangen waren, beginnen zu keimen, sich zu regen. Der größte Fluch, der auf dem Reiche lag, ist gefallen: das Sozialistengesetz. Zweifellos ist die Beseitigung desselben vor allem der ebenso tatkräftigen als besonnenen Haltung der Sozialdemokratie und der Erkenntnis ihrer Unbesieglichkeit zuzuschreiben; aber das braucht uns nicht abzuhalten, die Einsicht derer anzuerkennen, welche es ohne äußeren Zwang fallen ließen. Der grundsätzliche Widerstand gegen jede Art von Ver änderung und Reform ist gebrochen. Gewiß haben die herrschenden Klassen besonders die mächtigen Interessengruppen der Agrarier und Großindu striellen, noch übergroße Herrschaft in ihren Händen. Aber so unbedingt und unerschüttert, früher, ist dieselbe nicht mehr; vielmehr hat sie hier und dort einen Stoß erlitten, und diese Bevorrechteten werden sich darauf ein richten müssen, wenigstens von ihren maßlosesten Forderungen nachzulassen. Auch auf dem Gebiete des Arbeiterschutzes ist wenigstens der erste Schritt zur Besserung getan worden. Gewiß ist ein himmelweiter, trauriger Abstand zwischen den schönen Versprechen in der kaiserlichen Botschaft und der Ge werbenovelle, wie sie von der Regierung vorgelegt und vom Reichstag schließlich angenommen worden ist. Der mit Hochdruck arbeitende Einfluß des Kapitalismus und die Kommandiersucht der Bürokratie, Eigennutz und Unkenntnis des Volkslebens haben das, was an gutem Willen vorhanden war fast bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet. Darum mußten wir auch die Ge werbenovelle ablehnen; unsere berechtigte Bekämpfung ihrer schwächlichen ja teilweise arbeiterfeindlichen Bestimmungen schließt aber nicht aus, daß dies Gesetz eine Anzahl freilich kleiner, aber tatsächlicher Verbesserungen enthält. Wichtiger als dies ist aber, daß man sich überhaupt einmal auf die Bahn der Arbeiterschntzgesetzgebung begeben hat, auf der man durch die Logik der Tatsachen, trotz allen Widerstrebens immer weitergetrieben werden wird. Der Unterschied gegen früher drückt sich vor allem durch die Tatsache aus: daß wir heute im wesentlichen auf das gemeine Recht, den Boden des formal gleichen Rechtes gestellt sind und die Möglichkeit haben, einen ge wissen Einfluß auf die Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten auf ge setzlichem Wege zu üben.
Diese Veränderung kann nicht verfehlen, auch auf unsere Partei und ihr poli tisches Verhalten einzuwirken. Wenn man sagt, daß die Sozialdemokratie unveränderlich sei, so kann man damit vernünftigerweise nur meinen, daß un sere grundlegenden Anschauungen von der Ursache aller menschlichen Aus beutung und Unterdrückung, von der Möglichkeit und Notwendigkeit ihrer Beseitigung und von unserer Pflicht unablässigen Ringens und Kämpfens für dies Ziel unveränderliche seien. In bezug auf die Gestalt aber, welche dieses Ringen zu verschiedenen Zeiten annimmt, und welche Mittel die Sozialdemo kratie jeweils zur Förderung ihrer Bestrebungen zu benützen hat, gibt es nichts Unveränderliches. Hier ist unsere Partei, wie jedes andere Lebewesen einem währenden Wechseln und Entwickeln unterworfen. Mit einem Worte unsere Grundsätze gehören uns, aber ihre Anwendung auf das Leben, die politische Taktik richtet sich nach den jeweiligen politischen und wirtschaft lichen Verhältnissen und Bedürfnissen und wird zum größten Teil von dem Verhalten der Inhaber der Macht und den übrigen Parteien bestimmt.
Daraus ergibt sich, daß unsere Taktik heute nicht die gleiche sein kann, wie zur Zeit des Ausnahmezustandes. Allerdings haben wir auch damals die par lamentarische Tätigkeit und Anteilnahme an der Tagespolitik nicht aufgege ben, allein die hauptsächlichste Aufgabe der Partei mußte damals im er bittertsten rücksichtslosesten Widerstande gegen eine Regierung bestehen, wel che uns grundsätzlich außerhalb des Gesetzes stellte, uns politisch und persön lich zu vernichten bestrebt war, und mit der es daher nur Krieg, keine Ver handlung geben konnte. Heute ist das anders. Wohl hat die Regierung den Kampf gegen uns nicht aufgegeben. Aber es ist nicht mehr der barbarische Vernichtungskrieg, sondern man hat uns als kriegsführende Macht anerkannt und führt einen geregelten Streit mit uns, in welchem wir durch unsere Tüch tigkeit wesentliche Erfolge erringen vermögen.
Daß von einer Aufgabe der Grundsätze unserer Bewegung keine Rede sein kann, ist selbstredend. Ebensowenig haben wir Veranlassung, unsere Waffen aus der Hand zu legen, denen wir am meisten verdanken, was wir bisher er reicht haben. Aber anderseits entspricht es dem Interesse der Arbeiterbe wegung und des Gemeinwesens überhaupt und ist auch dem aller Utopie und Spekulationen fernen, im besten Sinne realpolitischen Wesen unserer Partei nicht zuwider, wenn wir den Weg der Verhandlung betreten und suchen, auf Grundlage der heutigen Staats‑ und Gesellschaftsordnung Verbesserungen wirtschaftlicher und politischer Art herbeizuführen. Unsere Partei hat, nach dem sie sich anfänglich auf das schroffste gegen jedes Parlamentieren erklärt hatte, diesen Weg widerwillig und unsicher betreten und angesichts seiner vielen Schwierigkeiten auf ihm oft wieder umkehren wollen. Jetzt, wo ihre Kraft und Geschicklichkeit gewachsen und die Bedingungen günstigere sind, werden wir diesen Weg sicher folgerichtig weiter zu gehen haben.
Ich erinnere Sie an die Worte, welche ich in der Riesenversammlung des 1. Ok tober vorigen Jahres sprach: »Wir haben angesichts der gemachten Verspre chungen eine ehrliche Probe anzustellen, ob tatsächlich der Wille zu gewissen Verbesserungen vorhanden, und den Versuch zu machen, ob auf dem Boden des wiedergewonnenen gemeinen Rechtes eine ausreichende Verteidigung der Interessen und Bestrebungen des arbeitenden Volkes möglich ist. Gelingen diese Proben und dieser Versuch, so kann es niemand mehr freuen, als uns Sozialdemokraten. Denn wir kämpfen nicht um des Kampfes sondern um des Preises des Kampfes willen. Wo wir gutem Willen begegnen, wirklich arbei terfreundliche Bestrebungen sehen, werden wir die Ersten sein, welche diese anerkennen, unterstützen, entwickeln. Keiner von uns träumt davon, daß die Verhältnisse mit einem einzigen Schlage verändert werden könnten; das Fort schreiten geht allmählich, schrittweise, organisch vor sich. Erweisen sich aber diese Erwartungen als trügerisch, sucht man uns zu täuschen oder sollte man gar nach kurzem wieder zur alten Gewaltpolitik zurückkehren, so verlieren wir nichts. Denn unsere kampferprobte Rüstung ist noch bereit; wir haben während der letzten zwölf Jahre gelernt, auch der schwersten Gefahr die Spit ze zu bieten. Und der Welt wird dann auf das Unwiderleglichste bewiesen wo der gute und wo der böse Wille ist. Die Lage ist für uns aussichtsreich viel versprechend, aber zugleich verantwortungsvoll. Genügte einst Leiden schaft und unbeugsamer Trotz, so handelt es sich jetzt vor allem um Beson nenheit, kluges Abwägen und zähe Ausdauern.
Dem guten Willen die offene Hand, dem schlechten die Faust! Wo wir den ersteren finden, müssen wir ihn stärken, Vorurteile zerstreuen und aufklären schlechte Einflüsse kräftiger bekämpfen. Der in der heutigen Gesellschaft vor handene Interessengegensatz ist der Hauptfeind; aber Unkenntnis und Vor urteil machen nicht wenige gute Menschen zu Gegnern unserer Bestrebungen und hier kann nicht nur überzeugendes Lehren, sondern noch mehr kluges Handeln uns viel nützen. Über alledem aber ist unsere Partei als Vertreterin aller Unterdrückten und Bedrängten, aller emporstrebenden Kräfte, zu einem immer gewaltigeren politischen Machtfaktor zu entwickeln ‑ den Gutwilligen zum Sporn, den Eigensüchtigen zum Widerstande. Denn nur der kann Forde rungen erheben, welcher Kraft und Macht hat; dem hilflosen Bettler gibt man nichts.
Dieser Stufe der Bewegung entspricht, daß wir vom Theoretischen ins Prakti sche, vom Allgemeinen mehr ins Einzelne gehen. Wir sollen das Zukünftige im Auge behalten, aber darüber nicht das Gegenwärtige, Nächste, Dringend ste vergessen. Diese Einzelheiten mögen vom Standpunkte einer hohen Welt anschauung klein und gering erscheinen; aber nur der Träumer und der Tor verkennen ihre Notwendigkeit und Bedeutung. Der Einsichtige weiß, daß nicht minder wichtig für den Erfolg als die Kraft im Sturmdrange die Tüchtig keit im Dauerkampfe ist.
Gewiß hat der vorwärtsstürmende, alles niederwertende Gedanke sein Recht. Er ist notwendig, um ein System, eine Weltanschauung zu bilden, eine Idee rein darzustellen und für sie zu begeistern, ein Endziel anzugeben, das auf den wechselnden Wegen die Richtung weist. Und dieser Gedanke wird um so weniger Gegengewicht finden, je mehr man ihn ausschließlich auf das Gebiet der Theorie beschränkt und von der Fleischwerdung zurückhält. Die Tat aber, die Übertragung des Gedankens in die Wirklichkeit, überspringt die Hindernisse nicht so leicht und schnell. Bisweilen hat es ja wohl große Krisen gegeben, wo die Geschichte einen Sprung machte oder zu machen schien. Im allgemeinen aber findet ein langsames, organisches Entwickeln statt. Wie die natürlichen Verhältnisse nicht in ruckweisen, plötzlich und unvermittelt ein ander folgenden Umwälzungen sich entwickeln, so lösen die gesellschaftlichen Ordnungen einander nicht als abgeschlossene, unvermittelte Einheiten ab. Es gibt auch hier so wenig ein künstliches Machen als ein plötzliches Abreißen und Wiederbeginnen, sondern das Alte wächst allmählich, viel zu langsam für den hochfliegenden Sinn, aber sicher in das Neue hinein. Dieses tausend fache Wurzeln des Heutigen im Gestrigen und des Morgen im Heute läßt nichts Absolutes aufkommen; alle politischen und gesellschaftlichen Zustände sind etwas Relatives, sind Ubergangsformen. Die heutige Form zu benützen, um auf die Gestaltung der morgigen Einfluß zu üben ‑ das muß unsere Auf gabe sein.
[...]
Ich wiederhole: In dem Maße, in welchem wir einen unmittelbaren Einfluß auf den Gang der öffentlichen Angelegenheiten gewinnen, haben wir ‑ unter voller Aufrechterhaltung unserer grundsätzlichen Bestrebungen ‑ unsere Kraft auf die jeweils nächsten und dringendsten Dinge zu konzentrieren und zeit weise positive Aktionsprogramme aufzustellen. Als die am nächsten und mit allem Nachdruck anzustrebenden Forderungen sehe ich an:
Die Weiterführung des Arbeiterschutzes. [...] Die beschränkten Verbesserungen in bezug auf die Sonntagsruhe usw., welche bereits eingeführt sind, müssen auf immer weitere Gewerbe ausgedehnt werden. Daneben sind neue Bedingungen für einen wirklichen Arbeiterschutz anzustreben, vor allem die ganze Kraft auf die Erlangung eines gesetzlichen Arbeitstages zu wenden des weitaus wichtigsten, des Kern‑ und Angelpunktes aller augenblicklichen Arbeiterschutzforderungen. [...]
Die Erringung eines wirklichen Vereinigungsrechtes. [...] Es muß auf ein gemeinsames Reichsvereinsgesetz hingewirkt werden. […] Indes hat die neueste Ge schichte sowohl der politischen Parteien als der wirtschaftlichen Verbände ge zeigt, daß der Drang nach großen, sich über das ganze Reich erstreckenden Organisationen so stark ist, und die zur Erreichung dieses Zieles dienenden Mittel so vielgestaltig und unerschöpflich sind, daß die bisherigen Gesetzes bestimmungen sachlich vollkommen wirkungslos bleiben und lediglich als kleinliche erbitternde Schikanen empfunden werden. [...]
Auf dem Gebiete des Lohnkampfes, des Ausstandes muß die Enthaltung jeder staatlichen Einmengung zugunsten des einen Teiles gefordert werden. [...]
Es wird sehr viel vom Vorgehen der Sozialdemokratie, von ihrer Kraft und Entschiedenheit, wie von ihrer geschickten, folgerichtigen Benützung der tat sächlichen Verhältnisse abhängen, daß dieser Gedanke in erster Reihe in der Arbeiterwelt, aber auch darüber hinaus bei den Einsichtigen in allen Schichten immer mehr Wurzel faßt und sich Geltung verschafft.. Je friedlicher, geordneter diese Entwicklung vor sich geht, desto besser für uns und das Gemeinwesen! (Lebhafte Zustimmung).
Rede, gehalten in der Rechenschaftsversammlung des Wahlvereins am 6. Juli im „Eldorado“ zu München
Viel wichtiger als die Aufzählung der Einzelheiten aus dem letzten Reichstage erscheint es mir, noch einmal einen Blick auf die allgemeine Politik des Reiches, sowohl die innere als die äußere, und unsere Stellung zu derselben zu werfen. Seitdem dieser Reichstag zusammengetreten ist, sind bedeutende Verände rungen in Deutschland vor sich gegangen. Die Ausnahmegesetzgebung ist ge fallen und nicht minder ist es ihr Urheber, der bis dahin allmächtige Reichs kanzler. Es sind neue Männer an die Spitze getreten und mit ihnen sind, trotz vielseitigen Sträubens gegen Neues, eine nicht geringe Anzahl von Umgestal tungen eingetreten die für uns nicht gleichgültig sind. Nachdem diese neue Phase nun fast 11i2 Jahre besteht, ist es an der Zeit, dieselbe forschend zu überblicken, und zu prüfen, inwieweit sie zu Veränderungen in unserer poli tischen Stellungnahme Anlaß gibt oder nicht.
Unter den Anwesenden befindet sich eine große Anzahl von solchen, die heute vor fünf Wochen in diesem selben Saale anwesend waren, als ich gerade diesen Punkt eingehend besprochen habe. Meine damaligen Auslassungen sind nun zum Ausgangspunkte einer ziemlich umfangreichen Erörterung geworden, welche schriftlich und mündlich, in unserem eigenen Lager wie außerhalb des selben gepflogen wird.
Verschiedentlich wird behauptet, daß meine damalige Rede etwas völlig Neues, eine vollkommene Veränderung der ganzen bisherigen Taktik unserer Partei entfalte. Dies ist jedoch keineswegs richtig. Die Taktik, welche ich emp fohlen habe, ist in ihren Elementen bereits bisher vorhanden gewesen, nur daß sie weniger folgerichtig durchgeführt wurde. Was aber mich selbst betrifft, so verfolge ich diese Politik seit langem und vor Ihrer aller Augen unausgesetzt und unverändert. [...]
Dieser Widerspruch erhob sich zunächst von derselben Seite, welche schon im vorigen Jahre einen gewaltigen Lärmen über den angeblichen Verderb der Partei erhoben hat. Was von dieser Seite vorgebracht wird, ist im Grunde nichts anderes, als die alte Einbildung, wie wenn die großen Veränderungen im Völkerleben nur durch tönende Worte und lärmende Kundgebungen be wirkt würden. Jedes Bestreben, Schritt vor Schritt und positiv zur Besserung der Lage des Volkes zu wirken, wird als unbedeutend, als Zeitverlust, ja als eine Art von Verrat an unseren Grundsätzen hingestellt.
Durch ein solches Vorgehen werde, sagt man, der Glaube und die Hoffnung erweckt, als ob schon unter der gegenwärtigen Staats‑ und Gesellschaftsord nung überhaupt etwas für das arbeitende Volk geschaffen werden könne. Nach meiner Auffassung kann dies aber in der Tat geschehen, wenn auch frei lich, im Vergleich zu unserem Zukunftsideal, augenblicklich nur in geringem Umfange. Die Geschichte aller modernen Länder, insbesondere auch die Geschichte der Arbeitsgesetzgebungen, zeigt uns dies auf das deutlichste. Oder sind etwa alle die mühsam errungenen, aber schließlich doch erreichten Ent wicklungsstufen, vom Beginne der ersten englischen Fabrikgesetzgebung bis in die jüngste Zeit, alle die fortschreitenden Einschränkungen des ehemals völlig schrankenlosen Ausbeutungsrechtes der Unternehmer für die Arbeiter bedeutungslos ?
Man sagt, die herrschenden Klassen würden ja doch freiwillig niemals etwas von ihren Vorrechten ablassen. Nun, freiwillig werden sie das allerdings kaum, sondern nur genötigt. Aber es ist ein Irrtum, sich vorzustellen, daß diese Nötigung nur durch die Faust geschehen könne, daß in jeder einzelnen Frage des Staats‑ und Gesellschaftslebens die nackte Gewalt in Wirkung trete und entscheide. Es gibt auch noch andere Gewalten, als die Faust: die fortgesetzte zähe Arbeit zielbewußt arbeitender Organisationen, die dadurch bewirkte Veränderung der Meinungen und vor allem die Macht der wirtschaftlichen Tatsachen. Auf diesem Wege hat besonders auch die deutsche Arbeiterbewe gung den herrschenden Klassen nicht geringe Erfolge abgerungen. Um nur auf dem wirtschaftlichen Gebiete zu bleiben ‑ welch ein Weg ist nicht von der ersten zögernden Annahme des Fabrikinspektorates bis zur neuesten Gewerbe novelle! Noch ein anderes Beispiel: Noch heute steht in unserem Programm von 1875 die Forderung nach einem Wirksamen Haftpflichtgesetze gegen Un fälle bei der Arbeit. Diese Forderung ist aber heute von der Unfallversiche rung tatsächlich überholt, wodurch selbstverständlich deren Mängel keines wegs geleugnet werden sollen.
Nun wird freilich in Berlin schlankweg die Behauptung aufgestellt: Alle Arbeiterschutzgesetze seien völlig wertlos, nützten dem Arbeiter gar nichts, ja seien für die Befreiung des Volkes nur schädlich und hinderlich. Wer sich mit kleinen augenblicklichen Besserungen befasse, sei für Die Revolution ver loren«, unser Auge dürfe in der Gegenwart nur das Elend, nur ihre Unverbesserlichkeit sehen und müsse im übrigen nur auf die ersehnte Zukunft ge richtet sein . . . Eine solche Auffassung wird zweifellos von ihren Vertretern als besonders prinzipientreu angesehen, aber sie ist im Grunde nichts als die Politik der Unfruchtbarkeit und Verzweiflung. Ihr Grundsatz ist das anarchi stische Wort: je schlechter es den Leuten geht, desto besser!
Nun weiß aber jeder von uns, daß der Mensch, wenn er erst unter eine gewisse Stufe der Lebenshaltung herabsinkt, wohl die Kraft hat, in einem Augenblicke der Erregung an einem Straßentumulte, einer Revolte teilzunehmen, Fenster einzuwerfen oder auch Schädel einzuschlagen; zu einer dauernden, ernsten und zielbewußten Arbeit aber ist er nicht mehr brauchbar. Deshalb sind wir von jeher dafür eingetreten, daß auf eine allmähliche, fortgesetzte Verbesserung des Arbeiterloses hinzuwirken sei. Hierfür spricht schon der Umstand, daß wir nicht bloß Vertreter wissenschaftlicher Theorien, sondern zugleich Vertre ter der leidenden Volksmassen sind. Ja, wir werden in erster Linie deshalb gewählt, weil man uns als die Vorkämpfer aller Unterdrückten und Benach teiligten ansieht, weil das Volk weiß, daß alle seine Klagen durch uns zur Geltung kommen. Mit einer beschränkten Parteipolitik in dem Sinne, daß wir bloß immer und immer wieder die prinzipiellen Forderungen erheben und sonst nichts tun, würden wir sehr wenig Leute befriedigen und gewinnen.
Worauf es ankommt, das ist, daß wir, ohne unsere Endziele und den Zu sammenhang der Forderungen im mindesten zu vergessen, auch praktische Tagespolitik treiben, unausgesetzt in jeder Einzelfrage die öffentliche Meinung und die gesetzgebenden Faktoren bestürmen und nie vergessen, daß jede noch so unbedeutende Verbesserung des Arbeitsloses die geistige und leibliche Kraft und Macht des Volkes vermehrt und zum weiteren Kampfe stärkt, zu neuen Bestrebungen ermutigt und befähigt. Damit fällt all das Reden gegen das Politiktreiben und Parlamentieren in nichts zusammen.
Die Leute in Berlin werfen mir vor: Man dürfe mit den Regierungen nicht »verhandeln«, sondern müsse von ihnen »fordern«. Das ist sehr schön gesagt. Alle unsere Vertreter im Reichstage fordern immer und sind dabei nicht zu rückhaltend. Aber damit allein ist es nicht getan, sondern da die Gegenseite auch Interessen und Macht hat, so gilt es über die Forderungen zu verhandeln.
Sagen wir, wir forderten den zehnstündigen Arbeitstag. Nach langen Aus flüchten werden wir schließlich den elfstündigen Arbeitstag erreichen. Sollen wir dieses Zugeständnis nun deshalb als nichtig ansehen? Eine Politik, die sagt wenn ich nicht meinen ganzen Willen erreiche, spiele ich überhaupt nicht mehr mit ein solches Vorgehen ist nicht die Politik von ernsten Männern, sondern von Kindern! Ernste Männer setzen sich Ideale, aber sie vergegenwärtigen sich auch den langen Weg, der zu ihnen führt und die unzähligen Hindernisse die zu übersteigen sind, sie vergegenwärtigen sich, daß kein mit tausend Fäden in der Vergangenheit wurzelnder Zustand auf einen einzigen Schlag einem Neuen Platz macht, sondern daß jede Entwicklung allmählich vor sich geht, und daß man das Ganze wollen und anstreben, aber es in Teilen er obern muß.
Das Leben der Gesellschaß und der Staaten besteht nicht aus sich überschlagen den Sprüngen, sondern aus einer Kette von wechselnden Verschiebungen der Machtverhältnisse, von Teilerfolgen. Und diesem Gesetze ist unsere Partei ebenso wie jede andere unterworfen. Wollten wir eine religiöse Sekte oder eine wissenschaftliche Schule sein, dann freilich brauchten wir uns um die un angenehme Wirklichkeit nicht zu kümmern, sondern könnten ruhig unsere LuRschlösser bauen. Sekten und Schulen arbeiten nur mit dem Absoluten und erheben ihre Forderungen ohne Rücksicht auf deren Ausführbarkeit. Eine in der Wirklichkeit arbeitende Partei kann das aber nicht tun; sie kann sich nicht auf den Isolierschemel stellen, sondern muß sich nach dem täglichen Leben richten und praktische Politik treiben. Der Sozialismus war früher eine Sekte und eine Schule. Heute aber ist er in Deutschland, insbesondere seit den letzten Wahlen, eine große Partei geworden, die sich nicht mehr bloß in bequemen allgemeinen Forderungen halten und auf den Standpunkt der bloßen Verneinung beschränken kann. Das praktische Mitarbeiten ist schwie riger als das bloße Demonstrieren, aber gerade unsere Größe legt uns die zwingende Verpflichtung zu dieser Arbeit auf.
[…]
Die erwähnte politische Lage, die Rückeroberung des gemeinsamen Rechts bodens, das Zusammenbrechen des früheren bedingungslosen Widerstandes und die Möglichkeit einer gewissen Betätigung zugunsten der Arbeiter einer seits, wie die Größe unserer Partei, ihre Anhängerschaft in den Volksmillionen und die Zahl unserer Vertreter im Reichstage andererseits: alles dies zwingt uns, aus dem als Tatsache angenommenen Parlamentarismus die notwendigen Schlußfolgerungen zu ziehen. Niemand kann daran denken, von unseren Grundsätzen etwas aufzugeben; vielmehr müssen wir bei jeder Handlung unserer praktischen Politik uns gegenwärtig halten, daß sie nur eine kleine Annäherung an das große Ziel ist. Aber die Hoffnung auf die Zukunft, die uns stärkt und erhebt, darf nicht die Hoffnung für die Gegenwart ersticken, muß sie vielmehr erst recht beleben. Die Wanderer auf dem langen und dor nigen Wege zum fernen Ende können ihre Lebenskräfte nicht bloß durch den Anblick des in nebelhafter Ferne sich abzeichnenden Zieles ihrer Hoffnungen aufrechterhalten, sonst würden sie lange vor der Ankunft verhungern und verschmachten. Deshalb müssen wir, ohne das Allgemeine aus dem Auge zu verlieren, vom Zeitunbegrenzten mehr ins Unmittelbare, vom Absoluten zum Positiven gehen, neben dem dauernden Programm solche Arbeitsprogramme aufstellen, welche für die nächstliegende Zeit bestimmt sind, und unsere Kraft auf solche Einzelforderungen sammeln, welche jeweils den dringendsten Be dürfnissen entsprechen und die größte Möglichkeit der Durchführung für sich haben. Hinter diese Forderungen muß dann die ganze Kraß unserer Agitation, unsere Beweisführung und Überzeugung, die Geschicklichkeit und Zähigkeit der Verhandlung, sowie all unser öffentlicher Einfluß gestellt werden. Man achtet und beachtet nur den Starken, und deshalb dürfen wir die Waffen, die wir bisher geführt haben, nicht aus der Hand legen; sind sie doch gegen über den Meisten unsere einzige Bürgschaß. Aber wir brauchen nicht jeden Augenblick unnütz mit ihnen zu lärmen. Der Wilde glaubt den Gegner zu schrecken, wenn er die Lanze drohend herumwirft und schreckliche Gebärden macht; ein wohlorganisiertes Heer macht auch Gewehr bei Fuß den Eindruck der Stärke - sich selbst und anderen!
Von diesem Gesichtspunkte aus habe ich am 1. Juni als zunächst zu betrei bende Forderungen bezeichnet: 1. Fortführung des Arbeiterschutzes, insbesondere Normalarbeitstag; 2. Wirkliche Vereinigungsfreiheit für das ganze Reich, Korporationsrechte für Gewerbeverhände, Gesetzesschutz gegen jede Beeinträchtigung des Vereinigungsrechtes durch die Unternehmer; 3. Beseitigung von jeder Art von Behinderung des Lohnkampfes; 4. Eingreifen des Rei ches in die Bildung der »Ringe«; 5. Beseitigung der Lebensmittelzölle.
Weiß jemand Forderungen, welche dringender sind und zugleich im Bereiche der Erreichungsmöglichkeit liegen? Ich glaube kaum. Wenn aber, dann können sie ja den schon aufgestellten Punkten hinzugefügt werden; nur muß gewarnt werden, zu viele Punkte zugleich et aufzustellen, weil mit ihrer Zahl ihre Kraft abnimmt. Aber ich frage: glaubt einer von Ihnen, daß die ganze oder teilweise Erreichung dieser Forderungen für das arbeitende Volk Deutsch lands gleichgültig oder unbedeutend wäre? Oder würde sie nicht vielmehr die Lage von Millionen tatsächlich verbessern, sie leiblich und geistig zu weiterem Verbesserungsstreben stärken? Würde uns das Volk nicht für die Erringung dieser Forderungen mehr Dank wissen, als für die kräftigsten Phrasen und schönsten Zukunftsbilder? Auch ich glaube an eine Zukunft, in welcher die widersprechenden Interessen der heute in zwei feindliche Lager gespaltenen Gesellschaft in die höhere Einheit des menschheitlichen Interesses aufgelöst sein werden, und auch ich glaube, daß von der Höhe dieser Zukunft herab wenn die Menschheit erst auf ihr angelangt sein wird, die kleinen Schritte unserer Tage unbedeutend erscheinen werden. Aber was von der Höhe aus klein erscheint, ist es darum noch nicht in der Wirklichkeit. Vor allem sind die Menschen nicht so, daß sie über einem verheißenen künftigen Leben das Elend des gegenwärtigen vergessen ‑ das hat auch das Christentum erfahren müssen und wir würden es nicht minder erfahren müssen, wenn wir so töricht wären es auf die Probe ankommen zu lassen.
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Vollständig abgedruckt in: Georg von Vollmar, Reden und Schriften zur Reformpolitik, Ausgewählt und eingeleitet von Willy Albrecht, Berlin, Bonn 1977, S. 136-161.